Wir Menschen gelten als soziale Wesen. Wir leben in Familien, haben Freunde, arbeiten in Teams und sind in Gruppen aktiv. Dennoch bereitet uns der Umgang mit anderen Personen oft Probleme. Es entstehen Vorurteile und wir fühlen uns unwohl. Ein Grund, warum zwischenmenschliche Beziehungen oft schwierig sind, ist unsere unterschiedliche Wahrnehmung: Das Bild, das wir von uns selber haben, entspricht häufig nicht dem Bild, was sich andere von uns machen.
Wer bin ich? Zwischen Selbst und Fremdwahrnehmung
Jeder Mensch besteht aus unzähligen Facetten – wie Erfahrungen, Gefühlen, Wissen, Ansichten und Ideen. Kaum etwas ist schwerer zu beantworten, als die Frage: Wer bin ich? Doch eine Antwort ist nötig, damit wir in der Beziehung zu anderen Menschen unsere Rolle finden und ein gesundes Selbstbewusstsein aufbauen können. Die Begegnung mit Fremden ist für uns manchmal wie ein Lauf über glühende Kohlen. Vorsichtig tasten wir uns aneinander heran und bemühen uns, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Kennen wir uns besser, entspannt sich die Lage. Damit uns die offene Interaktion mit anderen Menschen gelingt, benötigen wir ein realistisches Selbstbild. Dieses bekommen wir nicht, wenn wir uns ausschließlich auf unsere innere Perspektive verlassen. Wir müssen auch wissen, was andere von uns denken. Erst wenn wir unser Selbstbild mit dem Fremdbild abgleichen können, wissen wir wirklich, wer wir sind.
Was ist das Johari-Fenster
Das Johari-Fenster ist ein grafisches Modell zur unterschiedlichen Wahrnehmung in zwischenmenschlichen Beziehungen. Entworfen wurde es 1955 von den amerikanischen Sozialpsychologen Joe Luft und Harry Ingham. Der Begriff “Johari” ist ein Kofferwort, das sich aus den Vornamen der Entwickler zusammensetzt. Besonders Teams und Arbeitsgruppen greifen gern auf das Modell zurück. Es verbessert die Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Teammitgliedern. Dadurch steigert sich die Effizienz einer Gruppe. Doch nicht nur Gruppen, auch jeder Einzelne profitiert von dem Modell. Mit dem Johari-Fenster lassen sich unsere Stärken und Schwächen aufdecken. Wir erhalten eine realistische Selbsteinschätzung, die uns Sicherheit gibt. Besonders in der heutigen Zeit, in der “Soft-Skills” eine zunehmende Rolle spielen, gewinnt das Modell an Relevanz. Mit dem Johari-Fenster lernen wir unsere Wahrnehmung zu schärfen. Es sensibilisiert uns für unser eigenes und das Verhalten anderer.
Wie ist das Johari-Modell aufgebaut?
Das Modell symbolisiert ein Fenster mit vier Quadranten. Jedem Quadranten werden Eigenschaften und Merkmale einer bestimmten Person zugeordnet. Das geschieht einmal aus der Eigenperspektive heraus – also von der Person selbst. Und einmal aus der Fremdperspektive durch andere Menschen. Bei den Merkmalen wird zwischen “bekannt” und “unbekannt” unterschieden. Daraus ergeben sich folgende Kombinationen:
– Quadrant 1 enthält Eigenschaften, die allen bekannt sind – dieser Bereich ist die “Öffentliche Person”.
– Quadrant 2 beinhaltet Merkmale, die einem selbst unbekannt sind, anderen aber wahrnehmen – hier liegt unser “Blinder Fleck”.
– Quadrant 3 beherbergt einem selbst bekannte Persönlichkeitsmerkmale, die wir vor anderen verheimlichen – sie sind “Mein Geheimnis”.
– Quadrant 4 verbirgt Eigenschaften, die allen unbekannt sind – er enthält also “Unbekanntes”.
Die Bezeichnungen der einzelnen Quadranten variieren häufiger. Luft und Ingham haben die vier Bereiche in ihrer englischen Originalfassung folgendermaßen benannt: Area of Free Actvity, Blind Area, Avoided or Hidden Area, Area of Unknown Aktivity.
Die Bereiche des Johari-Fensters
Die öffentliche Person
In diesen Bereich fallen alle nach außen sichtbaren Merkmale eines Menschen, wie Erscheinungsbild, offen gezeigte Emotionen, bewusste Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen. Alles, was wir hier von uns preisgeben, ist uns selbst und allen anderen bekannt. Unsere Selbstwahrnehmung stimmt hier mit der Fremdwahrnehmung überein. Dieser Bereich wird auch als Raum des freien Handelns bezeichnet. Da wir uns hier nicht verstellen und offen mit anderen Personen interagieren.
Der blinde Fleck
Wer meint, er wüsste alles über sich, irrt meistens. Denn häufig zeigen wir Eigenarten, die uns gar nicht bewusst sind: Womöglich unterbrechen wir andere beim Reden, wiederholen ständig Phrasen, arbeiten ungenau oder verbreiten Chaos. Auch nonverbale Signale, die wir unabsichtlich ausstrahlen, können auf andere Menschen missverständlich wirken – etwa eine lässige Körpersprache, die als Desinteresse gewertet wird. Der blinde Fleck ist tückisch und eine häufige Ursache für zwischenmenschliche Konflikte. Da wir dieses Verhalten selbst nicht bemerken – oder es ignorieren –, verstehen wir nicht, wenn uns andere ablehnend gegenüberstehen. Schnell fühlen wir uns dann ungerecht behandelt. Doch nicht nur für negative Eigenschaften sind wir oftmals blind, auch positive entgehen unserer Wahrnehmung. Nicht selten erkennen andere Menschen unser Potenzial viel eher und trauen uns mehr zu, als wir uns selbst.
Mein Geheimnis
Ängste, Schwächen, Fantasien, Wertvorstellungen … Es gibt viele Merkmale unserer Persönlichkeit, die wir vor anderen lieber geheim halten. Vielleicht, weil sie uns peinlich sind oder wir durch ihre Offenbarung Nachteile erwarten. Bauen wir jedoch eine Fassade um unser wahres Selbst, kostet es uns viel Kraft, diese Maske aufrechtzuerhalten. Zumal sich manche Geheimnisse nur mühsam verbergen lassen, da sie unterschwellig in unser Handeln einfließen. Geben wir diese Informationen offen preis, fällt es anderen Personen leichter, unser Verhalten nachzuvollziehen. Die Energie, die wir in die Geheimhaltung stecken, können wir besser für produktivere Aufgaben nutzen.
Das Unbekannte
In vielen von uns schlummern ungeahnte Talente, die weder uns noch anderen bekannt sind. Manchmal kommen sie zum Vorschein, werden jedoch nicht bewusst wahrgenommen. Wir Menschen sind Meister darin, Verhaltensweisen zu automatisieren und unsere Wahrnehmung auf das Wesentliche zu beschränken. Daher läuft ein großer Teil unserer Handlungen unbewusst ab. Der unbekannte Bereich unserer Persönlichkeit beeinflusst täglich unser Leben. Er bewirkt, dass wir uns anders verhalten, als wir das wollen und wir uns selbst oft nicht verstehen.
Das Johari Modell: Ziele und Nutzen
Das Johari-Fenster verfolgt zwei Ziele:
- Es verbessert die Gruppendynamik, indem es das gegenseitige Verständnis und die Kommunikation zwischen den Mitgliedern einer Gruppe steigert.
- Es fördert die persönliche Entwicklung jedes einzelnen, indem es die Selbstwahrnehmung trainiert.
Um diese Ziele zu erreichen, gilt es, die einzelnen Bereiche des Fensters zu modifizieren. Als Werkzeug dafür dienen: Feedback und Selbstoffenbarung. Sobald sich einer der vier Quadranten verändert, wirkt sich das auf alle anderen aus. Ideal ist am Ende ein möglichst großer Bereich der öffentlichen Person.
Das offene Miteinander
Es hat viele Vorteile, wenn alle Mitglieder eines Teams mit offenen Karten spielen. Niemand muss einen Schein wahren – jeder kann sein, wie er ist. Geben wir unsere Wünsche, Ängste und Neigungen preis, können sich alle darauf einstellen. Die Zusammenarbeit wird effektiver und die Gruppe leistungsfähiger. Jeder kennt die Eigenarten des andern und weiß, damit umzugehen. Der öffentliche Bereich bietet einen großen Freiraum, doch muss dieser erst entwickelt werden. In einem neuen Team gibt es kaum öffentliche Informationen. Für den Einzelnen bedeutet das Unsicherheit und viele Fragen: Was erwarten die anderen von mir? Wie verhalte ich mich richtig? Was denken sie? Um diese Unsicherheiten aus dem Weg zu räumen, ist eine ehrliche und effiziente Kommunikation notwendig. Wir müssen uns mitteilen – müssen sagen, was wir uns wünschen und was uns stört. Und umgedreht sind wir darauf angewiesen, dass sich die anderen Gruppenmitglieder uns gegenüber öffnen. Was in der Theorie logisch klingt, ist in der Realität ein schweres Unterfangen: Sich vor anderen zu offenbaren oder ihnen gutes und konstruktives Feedback zu geben, ist alles andere als einfach.
Feedback und Selbstoffenbarung
Das Johari-Modell wird auch als Offenlegungs-/Feedback-Modell der Selbstwahrnehmung bezeichnet. Das heißt: Es reicht nicht aus, unsere Selbstwahrnehmung zu steigern, wir müssen auch lernen, die gewonnen Erkenntnisse im Team nutzbringend auszutauschen.
Den blinden Fleck verkleinern
Unser blinder Fleck ähnelt ein wenig dem Spinatblatt zwischen den Zähnen. Wir selbst sehen es nicht und wenn es uns niemand mitteilt, laufen wir Gefahr, dass wir uns blamieren. Um Informationen über uns zu bekommen, die uns selbst nicht bewusst sind, ist das Feedback von anderen essenziell. Nur so erfahren wir, wie wir auf andere wirken und können unser Verhalten anpassen. Je kleiner unser blinder Fleck ist, desto mehr Sicherheit bekommen wir im Umgang mit anderen Menschen. Das funktioniert jedoch nur, wenn wir ein konstruktives und wertvolles Feedback erhalten. Werden wir stattdessen offen kritisiert oder sogar bloßgestellt, verunsichert es uns. Daher ist es wichtig, dass bei einem Feedbackgespräch gewisse Regeln eingehalten werden.
Feedbackregeln
Für den Feedbackgeber:
– sachlich bleiben
– auf Bewertungen und Vorwürfe verzichten
– die eigenen Wahrnehmungen präzise und nachvollziehbar beschreiben
– als Ich-Botschaft formulieren (“ich habe bemerkt, dass …”)
– nur Eigenschaften ansprechen, die veränderbar sind
– auf konkrete Merkmale beziehen und nicht verallgemeinern
– keine Vermutungen oder Interpretationen vornehmen
– empathisch und behutsam vorgehen
– sich nicht nur auf Negatives beschränken
– das Feedback nicht aufzwingen
Für den Feedbacknehmer:
– aktiv zuhören, den Feedbackgeber nicht unterbrechen
– nur bei Unklarheiten nachfragen
– keine Rechtfertigungen
– Feedback als Chance sehen, nicht als Kritik
– es liegt im eigenen Ermessen, was vom Feedback umgesetzt wird
– rückmelden, ob das Feedback hilfreich war
Geheimnisse preisgeben
Jeder Mensch hat intime und höchstpersönliche Geheimnisse, die er nicht offenbaren möchte. Das ist auch nicht nötig. Nur die Eigenschaften, die unsere Interaktion mit anderen beeinflussen, sollten wir preisgeben. Wenn wir permanent Gefühle verdrängen oder gegen unsere Überzeugungen handeln, wirkt sich das früher oder später auf unser Verhalten aus. Darunter leidet die Zusammenarbeit. Natürlich müssen vertrauliche Informationen nicht gleich der gesamten Gruppe erzählt werden. Oft ist es einfacher, sie erst wenigen Teammitgliedern mitzuteilen. Wenn wir etwas Persönliches von uns offenbaren, damit uns andere besser kennenlernen, ist das meist keine Einbahnstraße. Anhand der Reaktionen auf unser Bekenntnis erfahren wir auch viel von den anderen Personen.
Für einen offenen Austausch, sind gegenseitiges Vertrauen und Akzeptanz unerlässlich. Niemand gibt Schwächen oder Ansichten preis, wenn er negative Konsequenzen fürchten muss. Nur wenn in einem Team eine ehrliche, positive und hilfsbereite Atmosphäre herrscht, entsteht eine solide Vertrauensbasis.
Unbekanntes entdecken
Um unsere unbekannten Fähigkeiten aufzuspüren, müssen wir auf Entdeckungsreise gehen. Das bedeutet: Neues ausprobieren und Routinen verlassen. Manchmal sind wir überrascht, wie leicht uns eine neue Aufgabe von der Hand geht – offenbar haben wir ein Talent dafür. Während uns andere Dinge trotz längeren Übens schwerfallen. Weil wir für neue Situationen noch kein Handlungsschema haben, verhalten uns intuitiv. Dabei entdecken wir manchmal ganz neue Seiten an uns. Vorausgesetzt: Wir nehmen sie wahr. Das Johari-Fenster fördert unsere Achtsamkeit. Es bringt uns dazu, unsere Eigenschaften zu bemerken und unser Verhalten zu analysieren. Gleichzeitig bekommen wir eine gezielte Rückmeldung aus der Außenperspektive. Konstruktives Feedback hilft uns, unsere verborgenen Talente aufzuspüren. So lernen wir uns selbst besser kennen und werden selbstsicherer. Das ermutigt uns, unsere Komfortzone zu verlassen und neue Grenzen auszutesten. Wir entwickeln uns weiter und steigern unsere Kompetenzen.
Wie wird das Johari-Modell praktisch angewandt?
Das Johari-Fenster kommt häufig bei individuellen Coachings oder Gruppen- und Team-Trainings zum Einsatz. Dieser geschützte Rahmen erleichtert das Ansprechen sensibler Themen. Ein Coach oder Seminarleiter achtet darauf, dass die Feedbackregeln eingehalten werden und greift moderierend ein, wenn zwischen den Teilnehmern Probleme entstehen. Haben die Anwender bereits ein gutes Vertrauensverhältnis, lässt sich das Johari-Modell auch in den Alltag integrieren.
Übungen zur Anwendung:
Konkretes Feedback einfordern
Wir stellen konkrete Fragen zu unserer Persönlichkeit und bitten gezielt um eine Rückmeldung. Diese Methode erlaubt es, das Feedback auf die Bereiche zu lenken, die uns besonders interessieren. Das hilft, unseren blinden Fleck zu verkleinern.
Beispielfragen:
– Welche Eigenschaften sind bei mir besonders ausgeprägt?
– Zeige ich Verhaltensweisen, die störend wirken?
– Welche Kompetenzen zeichnen mich aus?
– An welchen Schwächen sollte ich arbeiten?
Johari-Adjektive
Hier kommen wieder die umseitig genannten 56 Adjektive ins Spiel. Diese Übung deckt das gesamte Spektrum des Johari-Fensters ab. Um die passenden Adjektive für uns zu finden, müssen wir selbstreflektiert in unser Inneres schauen. Gleichzeitig bekommen wir eine Rückmeldung darüber, wie andere uns sehen. Gemeinsam mit unseren Feedbackgebern ordnen wir die genannten Adjektive den vier Bereichen zu. Welche Eigenschaften lagen im blinden Fleck, waren geheim oder allen bekannt? Wenn wir das Ergebnis nun Zusammenfassen, entdecken wir vielleicht einige Seiten von uns, die uns und allen anderen bisher unbekannt waren.
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